Coming-out ist ein zentraler Begriff queerer Theoriebildung und Praxis. In politischer und alltagspraktischer Verwendung bezeichnet er zumeist die (erstmalige) Thematisierung einer Nicht-Heterosexualität/Cisgeschlechtlichkeit gegenüber heterosexuellen/cisgeschlechtlichen Anderen. In einem weiteren Verständnis wird auch der zugrundeliegende personale Prozess im Vorfeld einer solchen Selbstthematisierung derart benannt. Wissenschaftliche Ansätze diskutieren zudem jeglichen, u.a. auch ästhetischen Bruch mit der unmarkierten, allgegenwärtigen Heteronormativität als Coming-out (vgl. Woltersdorff, 2005, S. 27). Damit steht der Begriff zwischen einer „Emanzipationsleistung“ und dem „Anpassungszwang“ (Woltersdorff, 2005, S. 105) an subkulturelle wie gesellschaftliche Erwartungen der Homosexualität. Angesichts dieser Paradoxie bezeichnet Volker Woltersdorff Coming-out „als ermächtigende Selbstentmächtigung […], denn der Sprechakt der Selbstbehauptung ist zugleich ein Sprechakt der Selbstunterwerfung“ (Wolterdorff, 2005, S. 134) unter diese Form der Subjektivität und Subjektivation. [1]
Die Praxisformen des Coming-outs sind hinsichtlich der jeweiligen historischen sozialen und legislativen Kontexte zu differenzieren. Im 19. Jahrhundert bezeichnete Coming-out die Praxis der gesellschaftlichen Einführung junger (Edel-)Frauen auf einem semi-öffentlichen Heiratsmarkt (vgl. Skinner, 1997). Der Begriff wurde auf die Initiation in eine schwule Subkultur durch ersten Analverkehr übertragen und in dieser Bedeutung bis in die 1950er Jahre verwendet (vgl. Delany, 1999). Gegenwärtig umfasst dieses Übergangsritual vor allem eine öffentlichkeitsadressierte Selbsterzählung: Die körperliche, gemeinschaftskonstituierende Praxis des „coming out into gay society“ (Delany, 1999, S. 91) verschob sich zum Akt der öffentlichen Verlautbarung von Identität, zum „coming out as gay“ (Delany, 1999, S. 91). Damit geht erstens die Übernahme des pathologisch-diagnostischen Begriffs der Homosexualität in das eigene Selbstkonzept einher (vgl. Woltersdorff, 2005, S. 40). Die Deutungsmacht dieses Homosexualitäts-Diskurses wird angeeignet, um die „Bedingungen der Konstitution politischer Subjekte“ (Hark, 1998, S. 41) zugunsten autobiographischer Selbstgewissheit zu verschieben. Zweitens stellt ein solches Verständnis von Coming-out eine individuelle Umgangsstrategie dar, um „im Rahmen heteronormativer Verhältnisse für sich und andere sozial verständlich […] zu werden“ (Kleiner, 2015, S. 36). Drittens konstituiert diese Verschiebung die Analysedimension des closet. Als Kehrseite der Öffentlichkeit werden dadurch Ausschluss, Verwerfung und Unsichtbarkeit als Formen der Marginalisierung und Beschämung analysierbar (vgl. Raupp, 1998; Haunss, 2004, S. 203). [2]
Aus genealogischer Perspektive ist die Thematisierung nicht-heterosexueller/cisgeschlechtlicher Selbste auf die „Umkehrung der Ökonomie der Sichtbarkeit“ (Hark, 1999, S. 43) zurückzuführen. Die Aufwertung von Sexualität im 18. Jahrhundert als Vollendung romantischer Liebe operierte zentral über die Vermessung abweichender sexueller Grenzzonen. Die gesellschaftliche Differenzierung und Hierarchisierung geschah dabei nicht (mehr) in Formen verwerflicher Praxen, sondern in Bezug auf assoziierte Personengruppen. Die Etablierung derartigen Wissens in Medizin, Recht und Politik führte erstens zur „Einpflanzung von Perversionen“ (Foucault, 1987, S. 41), zweitens zur Instituierung der Notwendigkeit einer Selbsterforschung, dem „Wille[n] zum Wissen“ (Foucault, 1987), sowie drittens zur Einsetzung des Bekenntniswunsches zunächst im Sinne einer Sorge um das (jenseitige) Selbst in der christlichen Beichte (Foucault, 1987, S. 49). [3]
Die Praxis des Coming-outs stellt zumeist einen relevanten Bestandteil nicht-heterosexueller und nicht-cisgeschlechtlicher Subjektivierung dar, insofern es spätestens seit den 2000er Jahren als „relativ einheitliches und kollektiv verbindliches Muster [der] Selbstvergesellschaftung“ (Wolterdorff, 2005, S. 119) besteht und die normative Anforderung zum „Bekenntniszwang“ (Krell & Oldemeier, 2015, S. 6) artikuliert. Coming-out teilt das Welt- und Selbsterleben chronologisch in ein Vorher und ein Nachher (Heilmann, 2002; Zuehlke, 2004), wobei die Reaktion der Adressat_innen im Vorfeld zumeist unklar scheinen, diese eine Homosexualität anschließend infrage stellen wie auch vermeintlich aufgrund geschlechtsnonkonformer Symboliken vorwegnehmen können (Sedgwick, 1993). Zugleich bindet das mit Coming-out verbundene Glücksversprechen (vgl. Woltersdorff, 2005, S. 49) die Subjekte an bestimmte Voraussetzungen: „[L]eaving one’s hometown, leaving one’s family, and rejecting other-sex desire“ (Saxey, 2008, S. 118). [4]
Explizit politisiert und zu einer intentional verwendeten Technologie wurde Coming-out innerhalb der BRD in der zweiten deutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre (vgl. Beljan, 2014, S. 106). Nach der weitgehenden rechtlichen Entkriminalisierung durch die Abschwächung des §175 StGB (Burgi & Wolff, 2016) forderte der (Gründungs-)Aufruf „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!“ (Praunheim, 1971) Aktivist_innen zur öffentlichen Darstellung ihrer Homosexualität auf und rekonzeptualisierte Coming-out als Grenzverhandlung von Öffentlichkeit und Privatheit. Im Gegensatz zur vorhergehenden homophilen Bewegung wurde damit eine personale Identität selbst Teil der politischen Verhandlungen, und das Ziel einer Angleichung zur Heterosexualität (Jagose, 2001, S. 37-61) verschob sich hin zum Versuch politischer Transformation durch Pointierung einer Differenz. Dabei entstanden zwei Konfliktpunkte um die Form des Coming-outs. Zum einen bildete sich im ‚Tuntenstreit‘ die Fraktion der Sozialisten, die im Bündnis mit der kommunistischen Arbeiterklasse im Einheitsblock demonstrierten und eine Chance zur homosexuellen Emanzipation in der Aufhebung aller Klassen sahen. Ihre Bedenken hinsichtlich eines Coming-outs standen im Gegensatz zu den Feministen, die eine Überwindung des schwulenfeindlichen Patriarchats durch aneignend-provokative Überzeichnung eines Effeminierungsvorwurfs anstrebten (vgl. Henze, 2012; Griffiths, 2012). Zum anderen entwickelten Aktivist_innen vor allem im Zuge der AIDS-Krise der 1980er Jahre eine Praxis des Outing, der unfreiwilligen Thematisierung der Homosexualität Prominenter. Diese fremdbestimmte Sonderform des Coming-out sollte sowohl eine öffentliche Solidarität einfordern als auch schwule Politiker als heuchlerisch entlarven, die sich kriminalisierend-restriktiv auf schwulen Sex, homosexuelle Beziehungen und AIDS bezogen hatten (vgl. Beljan, 2014, S. 119-122). In der DDR entwickelte sich keine eigenständige, auf öffentlicher Sichtbarkeit basierende homosexuelle Bewegung. Zwar vollzogen sich eine Entkriminalisierung bereits 1968 und eine weitgehende gerichtliche Entschärfung schon 1950; aufgrund der Beobachtung politischer Gruppierungen und staatlicher Medienkontrolle war diese erstens aber auf nicht-öffentliche Räume beschränkt und diskutierte zweitens Coming-out vor allem als familiäre Herausforderung und Chance (vgl. Setz, 2006; Starke, 2008; Thinius, 1994; exemplarisch auch Carow, 1989). [5]
Seit den 1990er Jahren wird Coming-out zunehmend wissenschaftlich betrachtet und dadurch als relevante Anforderung an nicht-heterosexuelle/cisgeschlechtliche vor allem junge Menschen beschrieben. Insbesondere Familie, Freundeskreis, Schule und Freizeit werden als bedeutsam für den Verlauf eines Coming-outs identifiziert, aus dem unter anderem Bedingungen für Wohlbefinden und Suizidalität abgeleitet werden (vgl. Biechele, 2004; Hark, 2000; Krell & Oldemeier, 2015; Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport [SSJS], 1999; Schwules Netzwerk NRW, 2005; Watzlawick, 2004). Neuere Arbeiten berücksichtigen außerdem die Verschränkung mehrerer sukzessiver oder gleichzeitiger Coming-outs (vgl. Krell & Oldemeier, 2016). Zugleich werden in Teilen der (entwicklungs-)psychologisch ausgerichteten Auseinandersetzung Anforderungen und Normen von Coming-out konventionalisiert. Auch wenn sich diese Ansätze um eine Konzeptualisierung homosexueller Identität und Psychodynamik jenseits einer Pathologisierung bemühen (vgl. exemplarisch für die 1970er Jahre Dannecker & Reiche, 1974), formulieren sie die Notwendigkeit einer öffentlichen Darstellung in einer Abfolge linearer Entwicklungsstufen bei der Gefahr einer Psychose (vgl. exemplarisch Cass, 1984; Coleman, 1982; dementgegen Langer, 2009). Zwischen diesen soziologischen und entwicklungspsychologischen Ansätzen oszilliert das Konzept des inneren und äußeren Coming-outs, das teilweise als notwendige Abfolge und teilweise als ineinander verschränkte Teilpraxen herangezogen wird, um den Unterschied zwischen dem Prozess der Selbsterkenntnis und der öffentlichen Selbstthematisierung zu beschreiben. [6]
Gegenwärtig findet eine Individualisierung, mediale Popularisierung und Ausdifferenzierung von Coming-out statt. In der synonymen Verwendung der Begriffe Outing und Coming-out zeigt sich die Fortführung eines politischen Anspruchs, wobei die Kritik an dieser Form der Diskurskonstituierung (vgl. Heilmann, 2011, S. 318) als Verletzung der Selbstbestimmung statt als politische Skandalisierung fortgeführt wird. Coming-out wird als private Entscheidung verortet, die dennoch öffentliche Aufmerksamkeit verdiene und politisch wirken soll, etwa in Form der (individuellen) Sichtbarkeit auf einer Christopher-Street-Day-Parade (vgl. Tietz, 2012). Auch können insbesondere männliche Politiker die mit Coming-out einhergehende Aufmerksamkeit für eine Karriere nutzen. Dies führte Anfang der 2000er Jahre zu einer „Outing-Kaskade“ (Heilmann, 2011, S. 13). Unter anderen inszenierten sich Ole von Beust und Volker Beck als vorkämpferisch-innovative oder konservativ-traditionale Männer und usurpierten dadurch – bei Darstellung einer monogamen, d.h. respektablen Partnerschaft – die Männerdomäne der Politik (vgl. Heilmann, 2011, S. 318). Zudem wird das Coming-out Jugendlicher zum digitalen Ereignis. Mitschnitte familiärer Coming-outs und biographische Selbsterzählungen (vgl. exemplarisch Sivan, 2013) erlangen hohe Popularität und gelten als „queer realness“ (Gray, 2009, S. 1163), als Referenz für authentische Auskünfte und Vorbilder (vgl. Woltersdorff, 2013). Damit geht eine Ausweitung der Bedeutung von Coming-out einher, die sich auch in der Adaption des Begriffs auf verwandte Praxen öffentlicher Darstellung und politischer Verhandlung von AIDS/HIV, Migrationsgeschichte und Behinderung/chronische Krankheit zeigen (vgl. exemplarisch Corrigan, Kosyluk & Rüsch, 2013; Ridge & Ziebland, 2012). Gleichzeitig findet eine Vereinheitlichung und Verdichtung der differenten lokal-historischen Praxisformen des Coming-out durch den mythischen Bezug auf die Stonewall-Riots 1969 sowie auf die daraus abgeleitete Formel des out and proud als Kampfbegriff statt (vgl. Huber, 2013, S. 113-126). [7]
Kritiken am Konzept des Coming-out fokussieren vor allem die Implikationen der Politisierung. Neben einer Orientierung an heterosexuell-respektablen Subjektformationen (vgl. Pankratz, 1997) und identitätspolitischer Reifizierung von Differenz (vgl. Bauer, 2001) ist vor allem die transkulturelle Universalisierung von Coming-out als unumgängliche politische wie individuelle Praxis problematisiert worden (vgl. Castro Varela & Dhawan, 2005; Manalansan, 2003, S. 222). Damit korrespondierend ist für den säkularen, rationalisierten bundesdeutschen Kontext festzustellen, dass Evidenz und damit soziale Existenz zwar immer an Sichtbarkeit gebunden zu sein scheinen, dass damit aber nicht zwangsläufig politische Repräsentation, Handlungsfähigkeit oder Macht einhergehen (vgl. Schaffer, 2008). Die Sichtbarkeit des Coming-outs kann zudem eine Gefahr der Mehrfachdiskriminierung oder des Verlusts notwendiger sozialer Netzwerke insbesondere für Persons of Color darstellen sowie mit Stereotypisierungen einhergehen (Çetin & Voß, 2016; Petzen, 2005). Durch Coming-out kann es so zur Zuweisung des Status des Spektakels, der „Karnevalisierung“ (Mesquita, 2008, S. 137), kommen, bei der Sichtbarkeit zur Verächtlichmachung führt. Außerdem ist eine Transformation der Kontextbedingungen festzustellen: Das „‚heimliche‘ Gebot heimlich zu bleiben“ (Hark, 2000, S. 5) wandelt sich in ein „Aufrichtigkeitsgebot und Homosexualitätsgebot“ (Woltersdorff, 2005, S. 126), das verspricht, dass nicht-heterosexuelle/cisgeschlechtliche Subjekte zu heteronormativen Bedingungen in die Gesellschaft ‚eingefaltet‘ werden (Laufenberg, 2014, S. 185-243). Coming-out wird damit zur Anforderung, welche die Belastung durch Antizipation negativer Reaktionen verstärkt: Das „sorgfältige soziale Screening“ (Hark, 2000, S. 20), um diesen zu begegnen, müsse deshalb möglichst zügig erfolgen und wird in der Regel als Druck erlebt (vgl. Krell & Oldemeier, 2015). Judith Butler (1996) problematisiert zudem den Erkenntnisgewinn eines Coming-outs: „Tatsächlich hat sich der Ort der Undurchsichtigkeit nur verschoben – vorher wusstest du nicht, ob ich lesbisch ‚bin‘, jetzt weißt du nicht, was es heißt, dass ich es bin“ (Butler, 1996, S. 18). [8]