Der Begriff Doing Gender fokussiert, wie Menschen in alltäglichen Interaktionen Geschlecht inszenieren, beobachten und relevant machen. Er ist ein Zentralbegriff der interaktionistischen Geschlechterforschung. Doing Gender betrifft zum einen Handlungsformen, mithilfe derer AkteurInnen signalisieren, dass sie einem Geschlecht angehören (z.B. Weisen der Gesprächsführung, des Gehens und Sitzens, des Verhaltens zum eigenen Körper und zu dem anderer, etwa wer wen wann, wie und wie lange anschaut). Darüber hinaus interessiert, wie sie sich zu dieser Mitgliedschaft verhalten (bspw. affirmativ, ritualistisch, ironisch, kritisch oder subversiv). Zuletzt verweist Doing Gender auf das praktische Wissen, das nötig ist, um diese Signale zu verstehen und sich zum Geschlechtshandeln anderer in Beziehung zu setzen, etwa zu bewerten, ob dieses Handeln angemessen ist, deplatziert, abwegig oder unverständlich. Geschlechtshandeln ist kein normativer Begriff und bedeutet nicht notwendigerweise, sich entsprechend einer Konvention ‚besonders männlich’ oder ‚besonders weiblich’ zu verhalten, sondern „Situationen so zu managen, dass unabhängig der Details das Ergebnis als geschlechtlich angemessen […] oder eventuell geschlechtlich unangemessen, jedenfalls erklärlich [accountable] erscheint” (West & Zimmerman, 1987, S. 135; Übersetzung des Autors). Abstrakter gesprochen bezeichnet Doing Gender somit Repertoires und Schemata des Handelns, der Wahrnehmung und der Bewertung, die funktionieren und verständlich werden, indem sie geschlechtliche Klassifikationen aufgreifen. [1]
Der Doing Gender-Begriff stammt aus den soziologischen Traditionen des Interaktionismus (Goffman, 1976) und der Ethnomethodologie (Kessler & McKenna, 1978; Hirschauer, 1993). Leitfrage der Ethnomethodologie ist, welche permanente Arbeit der Darstellung, Deutung und Aushandlung notwendig ist, um der sozial geteilten Wirklichkeit eine sinnhafte und scheinbar selbstverständliche Ordnung zu geben. In einer wegweisenden Studie dokumentierte der Ethnomethodologe Harold Garfinkel (1917–2011), wie sich die Transfrau Agnes im Verlaufe ihrer Geschlechtsumwandlung die Repertoires weiblicher Darstellungen aneignete (Garfinkel 1984 [1967]). Indem sie mit Garfinkel über das praktische Wissen sprach, das nötig ist, um im Alltag als Frau durchzugehen (engl. passing), reflektierte Agnes in bewusstem Zustand die Myriaden alltäglicher Praktiken und Gesten der Geschlechtlichkeit, die die meisten Menschen in vorbewusstem Alter erlernen und daraufhin im Alltag weitgehend unbewusst anwenden. Als Doing Gender griffig auf den Begriff gebracht, wurde dieser Ansatz dann maßgeblich durch einen gleichnamigen Artikel von Candace West und Don Zimmerman popularisiert (West & Zimmerman, 1987), der zu einem der meistzitierten soziologischen Aufsätze der 1980er Jahre und einem kanonischen Text der Gender Studies avancierte (Jurik & Siemsen, 2009; Healy, 2014). Man kann vermuten, dass die Doing Gender-Perspektive ihre historische Plausibilität aus der realen „Proliferation von Geschlechtern“ (Butler, 1987, S. 136; Übersetzung des Autors) bezog – im Sinne jenes breiteren und individualisierteren Repertoires an öffentlichen Geschlechtsdarstellungen, das der Feminismus und vor allem die Lesben- und Schwulenbewegung gegen Ende der 1980er Jahre erkämpft hatten (zur Genese des Ansatzes vgl. auch Connell, 2009; Stacey & Thorne, 1985). Innerhalb der Soziologie stand der Aufstieg der Perspektive im Kontext eines kultursoziologischen Booms, der neben einer verstärkten Hinwendung zu Diskursphänomenen auch eine Wiederentdeckung der sozialen Praxis beinhaltete (Schatzki, Cetina & Savigny, 2001; Reckwitz, 2003, 2004; Carrigan, Connell & Lee, 1985). [2]
Die Popularität des Ansatzes beruht auf dem Perspektivwechsel, der sich aus einer spezifischen Soziologisierung von Geschlecht ergibt: Statt Geschlecht als Eigenschaft von Individuen zu beobachten, wie notwendigerweise etwa in der Untersuchung geschlechtlicher Verteilungen (z.B. der Zahl von Frauen in Aufsichtsräten oder Parlamenten), oder den Sinn von Geschlecht zwei Großgruppen zuzurechnen, wie in der Theorie männlicher und weiblicher Geschlechtsrollen, wird untersucht, wie Geschlecht als Ergebnis alltäglicher Situationen zustande kommt, wie also AkteurInnen selbst mithilfe kontextspezifischer Begriffe und Kategorien zwischen Geschlechtern unterscheiden und dieser Unterscheidung Relevanz beimessen (Gildemeister, 2010). Indem sie Geschlecht nicht analytisch voraussetzt, sondern im Vollzug beobachtet, liefert die Doing Gender-Perspektive eine Erklärung seiner Naturalisierung: Menschen haben ein Geschlecht, weil sie in alltäglichen Interaktionen gelernt haben, dass andere ihr Handeln deuten, indem sie auf die Geschlechtsklassifikation zurückgreifen. Sie nehmen die Konsequenzen dieser Klassifikation dann in ihrem eigenen Handeln vorweg, d.h. sie wenden die Klassifikation auf sich selbst (und andere) an. Wiederum kann dies bedeuten, sich z.B. in ein konventionelles ‚Frauenbild’ zu fügen oder dieses, im Gegenteil, zu sabotieren, etwa in feministischer Absicht. Entscheidend ist, dass die Zugehörigkeit zum Geschlecht Frau in beiden Fällen nicht als individuelle Eigenschaft gegeben ist, sondern erst durch die Interaktion von externer und interner Klassifikationsarbeit zustande kam (vgl. Jenkins, 1996, 2000). Die Doing Gender-Perspektive kann so plausibel machen, warum die Geschlechtszugehörigkeit meist als natürlich und selbstverständlich wahrgenommen wird, obwohl die Performance der eigenen Geschlechtlichkeit individuell permanente Arbeit bereitet, die meisten als geschlechtlich gedeuteten Verhaltensunterschiede tatsächlich auf Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen zurückzuführen sind (Ridgeway & Smith-Lovin, 1999) und die Bedeutung der Geschlechterunterscheidung sich je nach Kontext, Ort und Epoche wandelt: Geschlecht wird dort als natürlich empfunden, wo Konsens über seinen Gebrauch als alltägliches Klassifikationsschema besteht. Mit der Untersuchung von Klassifikationsprozessen und dem Gebrauch geschlechtlicher Kategorien in realen Situationen betreibt die Doing Gender-Perspektive eine empirisch fundiertere Version jenes Anti-Essenzialismus’, den poststrukturalistische Ansätze theoretisieren (vgl. Butler, 1990; Butler, Laclau & Žižek 2000). [3]
Die Herstellung von Geschlecht in Alltagsinteraktionen zu verfolgen gibt Aufschluss über interne Ambivalenzen, lokale Spezifitäten und Verflechtungen der Geschlechterunterscheidung mit anderen Formen der Unterscheidung, etwa nach Ethnizität und Klasse (vgl. Fenstermaker & West, 1995, 2002). Ein Beispiel ist die interne Hierarchie zwischen hegemonialen (herrschenden) und subalternen (beherrschten), weil ethnisch abgewerteten Männlichkeiten (Connell & Messerschmidt, 2005; Billson & Majors, 1992; Lamont, 2000; Cornwall & Lindisfarne, 1994; Schrock & Schwalbe, 2009). Ein anderes Beispiel ist das Eindringen von geschlechtlichen Interaktionsformen und Kategorien in scheinbar neutrale professionelle Verhaltenscodes, die umgekehrt auch Sanktionen gegen die Performance von Geschlechtlichkeit enthalten können (für das Wissenschaftsfeld vgl. Leslie, Cimpian, Meyer & Freeland, 2015; Heintz, Merz & Schumacher, 2007; Katila & Meriläinen, 1999). In Interaktionen können Mechanismen geschlechtlicher Unterscheidung aufgespürt werden, die nicht als geschlechtlich benannt werden oder gar explizit eine Nichtbeachtung von Geschlecht behaupten (vgl. Fishman, 1978; Kaufman, 2005). Auf der institutionellen Ebene (z.B. in Unternehmen, Universitäten, Behörden, Gefängnissen oder Schulen) wird so sichtbar, welche geschlechtlichen Repertoires von der Kultur einer Institution prämiert werden, warum bestimmte Formen von Geschlechtlichkeit stärker von Abwertung betroffen sind als andere und anhand welcher Deutungsrahmen das Geschlecht von Individuen für ihre Bewertung durch andere relevant wird (vgl. Meuser & Lengersdorf, 2016; Kelan, 2009; Ridgeway, 2011; Weihrich & Dunkel, 2007; Lutz, 2007; Illouz, 1997). Das ‚Gelingen‘ geschlechtlicher Performances verweist auch auf die in ihnen bemühten kulturellen Strukturen. Beispiele sind die Abwertung von SozialhilfeempfängerInnen als ‚welfare queens‘ oder die Skripte der ‚toughness‘ und des ‚strengen Vaters‘ in Gestalt populistischer Führer (Norocel, 2010; Somers, 2017; Mols & Jetten, 2014; Spierings, Zaslove, Mügge & Lange 2015; Schneider & Ingram, 1993). [4]
Einige Annahmen des Doing Gender-Ansatzes kamen im Zuge der bis heute andauernden Diskussion des Begriffs in die Kritik. So wird erstens eine unzureichende Mikro-Makro-Verknüpfung moniert: Obwohl meist implizit vorausgesetzt, ist die Verknüpfung des interaktionalen, kognitiven und kulturellen Geschlechtshandelns mit der Struktur geschlechtlicher Ungleichheit bis heute konzeptuell unterbestimmt (vgl. Diehm, Kuhn & Machold, 2013; Ridgeway & Smith-Lovin, 1999). Ein Lösungsansatz könnte darin liegen, Doing Gender im Sinne der analytischen Soziologie als Mechanismus zu verstehen, der die in Studien zu Gruppeneffekten gefundenen Korrelationen und Ungleichverteilungen um kausale Prozesserklärungen ergänzt (vgl. Lamont, Beljean & Clair, 2014; Hedström & Swedberg, 1998; Tilly, 1999, 2006; alternative Theorievorschläge vgl. Aulenbacher et al., 2006, S. 82–179; Knorr-Cetina, 1981). Zweitens wird angemerkt, dass parallel zur Relevant-Setzung der Geschlechterunterscheidung auch solche Interaktionsformen zu beachten seien, mithilfe derer AkteurInnen zu einem Aussetzen oder Unterlaufen von Geschlecht beitragen, in Form eines Undoing Gender (vgl. Hirschauer, 2001, 2014; Deutsch, 2007; Butler, 2004; Kelan, 2010; Ridgeway & Correll, 2000). West und Zimmerman (1987) hatten diese Möglichkeit explizit ausgeschlossen: Nach ihrer Ansicht ist Geschlecht omnirelevant, weil Individuen permanent gezwungen sind, ihr Geschlecht auszuweisen und – im Sinne von accountability (West & Zimmerman, 1987, S. 135) – für die Angemessenheit ihres Geschlechtshandelns verantwortlich gemacht werden. KritikerInnen sehen in dieser Stabilisierung der Geschlechtsunterscheidung jenseits der jeweiligen lokalen Praxis einen Rückschritt gegenüber der ethnomethodologischen Tradition (so etwa Hirschauer, 2016; zur Debatte vgl. auch Geimer, 2013; Westheuser, 2015). [5]